Unter eine Bahn schauen, auf eine Bahn, virtuell Schweißen üben und in einem Linienbus sitzend durch eine Waschanlage fahren: Anlässlich ihres 125-jährigen Jubiläums hatte die Kasseler Verkehrs-Gesellschaft (KVG) zu einem Tag der offenen Tür eingeladen. – Ein Anlass, um zurück zu blicken auf die Geschichte des größten nordhessischen ÖPNV-Unternehmens.
In Kassel ist die „Wiege“ des deutschen Nahverkehrs. Schon 1877 fährt in der nordhessischen Stadt die Dampfbahn. Damit ist Kassel nach Paris und Kopenhagen die dritte europäische Stadt, in der sich Bahnen nicht mehr nur mit Pferdekraft fortbewegen. Die von Dampfloks gezogene Straßenbahn verbindet den Königsplatz im Herzen der Stadt mit dem sechs Kilometer entfernten Bad Wilhelmshöhe und somit dem beliebten Ausflugsziel Bergpark, heute UNESCO-Weltkulturerbe. Die Bevölkerung ist von diesem revolutionär neuen Verkehrsmittel begeistert.
Von der stetig wachsenden Nachfrage und dem technischen Fortschritt getragen, wird rund 20 Jahre später die „Große Casseler Straßenbahn Actiengesellschaft“ gegründet. 1897 entsteht die Vorläuferin der heutigen KVG mit dem Ziel, den Nahverkehr zu elektrifizieren, was in rekordverdächtigen anderthalb Jahren gelingt. 1927 schließlich erweitert die „Große Casseler“ ihr Angebotsportfolio mit ihrer ersten Omnibuslinie und gründet im Jahr darauf mit der „Kasseler Omnibus-Gesellschaft“ (KOG) eine Bus-Tochter. Nur ein Jahr später gehen in der KOG alle bestehenden Kasseler Omnibusunternehmen auf.
Heute sorgen die fast 800 Beschäftigten der KVG, davon fast 400 im Fahrdienst und 250 in den Fahrzeugwerkstätten, mit jeweils 80 Straßenbahnen und Linienbussen sowie den 28 RegioTrams für die Mobilität von jährlich rund 48 Mio Fahrgästen, und nach wie vor fahren Bahnen als Linie 1 zwischen Königsplatz und Wilhelmshöhe.
Kassel und die KVG schreiben in den Jahrzehnten mehrfach Nahverkehrsgeschichte – zum Beispiel durch die Herkulesbahn. Der Betrieb dieser elektrischen Kleinbahnverbindung, die von 1903 bis 1966 durch das am Fuße des Bergparks gelegene Druseltal bis nahe an den Herkules führte, ist ein geradezu waghalsiges Unterfangen. Das Besondere: Die teilweise enormen Steigungen werden ohne Zahnradtechnik betrieben. Das hat es zuvor nie gegeben.
„Man steigt nicht in die Bahn, man geht in sie hinein.“ So treffend charakterisiert ein Artikel in der lokalen Tageszeitung das ÖPNV-Novum, das in Kassel 1991 seinen Anfang nimmt: Seit Februar dieses Jahres fahren hier Niederflurstraßenbahnen im Linienbetrieb. Zusammen mit dem von der KVG und der nordhessischen Firma Profilbeton entwickelten Haltestellenprofil „Kasseler Sonderbord“, das sich zum internationalen Exportschlager entwickelt, ermöglichen die Düwag-Triebwagen vom Typ 6ENGTw eine barrierefreie Nutzung des ÖPNV und beschleunigen den Betrieb durch das raschere Ein- und Aussteigen der Fahrgäste. Im Linienbusbetrieb setzt die KVG die ersten Niederflurfahrzeuge 1994 ein.
Die 1990-er Jahre und das erste Jahrzehnt des Milenniums sind für die KVG eine Zeit des Aufschwungs und der Innovation. Längst vorbei sind die 1970-er, in den die Straßenbahn in Kassel vor allem aus Kostengründen fast eingestellt worden wäre!
Die KVG expandiert in das nordhessische Umland und betritt die Welt der Eisenbahn. 1995 eröffnet die Regionalbahn Kassel GmbH (RBK), ein Joint-venture der KVG mit der Hessischen Landesbahn (HLB), die Straßenbahnstrecke nach Baunatal auf einer ehemaligen Eisenbahntrasse. 2006 folgt die Inbetriebnahme der EBO/BOStrab-Strecke durch das Lossetal bis Hessisch Lichtenau als weiteres Gemeinschaftsprojekt von KVG und HLB.
Nach dem Karlsruher Modell startet 2001 der Vorlaufbetrieb für die RegioTrams mit geliehenen Saarbrücker Triebwagen. Seit 2005 fahren die bis heute eingesetzten 28 Alstom RegioCitadis-Züge als Zweisystemfahrzeuge zwischen Kassel und der nordhessischen Region. Mit dem Durchstich des Kasseler Hauptbahnhofs wird 2007 die umsteigefreie Verbindung der drei heutigen RegioTram-Linien RT1 (Hofgeismar-Hümme), RT4 (Wolfhagen) und RT5 (Melsungen) auch in und durch die Kasseler Innenstadt geschaffen und damit das RegioTram-Konzept vollendet. Die 18 E/E- und 10 D/E-Züge im Eigentum der RBK GmbH bringen jährlich rund 9 Mio Fahrgäste an ihr Ziel. Für ihre Wartung und Instandhaltung ist die RT-Werkstatt der KVG im Betriebshof Sandershäuser Straße zuständig.
Den Betrieb leistet zunächst die RegioTram Betriebsgesellschaft (RTB) mit den Anteilseignern DB Regio Hessen (51%) und RBK GmbH (49%). Seit Dezember 2013 ist die RegioTram-Gesellschaft mbH (RTG) dafür zuständig, ein 50/50-Unternehmen von KVG und HLB mit heute rund 120 Mitarbeitenden, darunter 80 Triebfahrzeugführer. Der Nordhessische Verkehrsverbund (NVV) hat kürzlich den Verkehrsvertrag mit der RTG um weitere zehn Jahre, bis Dezember 2033, erneuert.
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Nahverkehrs-praxis 11-12/2022.