Mobility-as-a-Service (MaaS) – und damit direkt verbunden – Sharing-Systeme werden für die Zukunftsfähigkeit des ÖPNV mit entscheidend sein. Das belegt auch die ECC Club-Studie 2021 „Neue Mobilität auf der Überholspur!“. Über die möglichen Entwicklungen sprach Nahverkehrs-praxis mit Henning Brandt, Leiter Unternehmenskommunikation der Computop Paygate GmbH.
Nahverkehrs-praxis: Herr Brandt, laut ECC Club-Studie wird MaaS „dramatisch“ wachsen. Was bedeutet das genau, und welche Belege gibt es für diese Aussage?
Brandt: Mobility-as-a-service im weiteren Sinne, also unter Einbeziehung des ÖPNV, ist in erster Linie ein urbanes Angebot. Sharingdienste sind auf dem Land ebenso selten wie dicht getaktete Schienen- und Busnetze, aus naheliegenden wirtschaftlichen Gründen. Die UN erwartet für 2050, dass in Westeuropa über 85% der Bevölkerung in Städten leben. Platzmangel und Verkehrsdichte, aber auch vorhandene Mobilitätsangebote und eine Verschiebung persönlicher Präferenzen, führen schon jetzt dazu, dass der Autobesitz in Städten abnimmt.
Die zuletzt massiv gestiegenen Preise für Energie, aber auch für die Lebenshaltung, werden die Menschen noch stärker zwingen, Anschaffung oder Leasing eines Autos mit spitzem Stift durchzurechnen und zu situationsbedingter Mobilität ins Verhältnis zu setzen.
Nahverkehrs-praxis: 73% der befragten Deutschen finden MaaS-Plattformen interessant bzw. sehr interessant. Welche Vorteile sehen die Menschen darin, und wie werden sich diese Plattformen in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Brandt: Wie so oft bei digitalen Services ist Convenience der bestimmende Faktor. Eine übersichtliche App ist den Befragten der ECC-Studie am wichtigsten. Ebenfalls in der Spitze: dass die Registrierung in der Plattform ausreicht und keine Anmeldung für jeden einzelnen Anbieter notwendig wird. Auch der Überblick über die bereitstehenden Verkehrsmittel und die Navigationsmöglichkeit werden geschätzt. Übersicht wird aber auch beim Preis erwartet: Eine transparente Darstellung und die Möglichkeit zu vergleichen sind den Nutzern wichtig.
Die Plattformen kennen diese Präferenzen natürlich und feilen an ihrer User Experience. Neben der Ausweitung der regionalen Verfügbarkeit und der Einbindung der vorhandenen Verkehrsmittel wird die Benutzerführung in der Fortentwicklung der Mobilitäts-Apps ganz oben stehen.
Nahverkehrs-praxis: ÖPNV-Unternehmen sollen sich zu Dienstleistern entwickeln und u.a. selber zum Plattform-Anbieter werden. Welche Chancen entstehen hier für die Betriebe?
Brandt: Die Nahverkehrsunternehmen haben als langjährige Dienstleister einen Vorsprung im Kundenvertrauen und in der regionalen Markenbekanntheit. Mit der Integration moderner Verkehrsmittel und einer nutzerfreundlichen App können sie ihr bisweilen etwas angestaubtes Image beleben und sich als umfassender Mobilitätsanbieter in der Region profilieren. Denn der Löwenanteil der Transportleistungen wird auf der Kurzstrecke erbracht, auf der regionale Anbieter ihre Stärken ausspielen können.
Dennoch ist eine Verengung auf den reinen Nahverkehr auf Dauer nachteilig: Erst die Einbindung überregionaler Verkehrsmittel, vor allem der Bahn, macht einen Plattform-Anbieter zum bevorzugten Mobilitätsservice für alle Lebenslagen. Die Integration von Navigations- und Kostendaten für den PKW ist hingegen mehr als ein Service. Die häufig negative Kosten- und Umweltbilanz des motorisierten Individualverkehrs eignet sich auch dazu, die Vorteile des ÖPNV zu unterstreichen.
Nahverkehrs-praxis: Kontaktloses Bezahlen und Preistransparenz sind nur zwei Punkte, die ÖPNV-Nutzern wichtig sind. Welche Services und Angebote können gewinnbringend auf Mobilitätsplattformen implementiert werden?
Brandt: Kontaktloses Bezahlen ist perfekt für die spontane, unregelmäßige Nutzung des ÖPNV. Insbesondere dann, wenn kein Fahrkartenkauf vor Reiseantritt notwendig ist, sondern die Bezahlung per Tap-and-Go direkt im Verkehrsmittel stattfindet, beispielsweise bei BONNsmart. Im Idealfall findet im Hintergrund noch eine Least-Cost-Berechnung statt, so dass nie mehr als ein Tagesticket fällig wird.
Die Stärke von Mobilitätsplattformen liegt aber in der Kombination mehrerer Verkehrsmittel. Hier erwarten die Fahrgäste zu Recht, dass diese Verkehrsmittel auch in der App bezahlt werden können, idealerweise mit einem Preis für die gesamte Strecke. In der Zahlungsabwicklung ist das allerdings mit höchsten Anforderungen an Prozesse und Dienstleister verbunden, da dieser Einmalbetrag auf die verschiedenen Anbieter aufgeteilt werden muss, inklusive unterschiedlicher Steuersätze und unter Einbeziehung eventueller Provisionen. Kommen dann noch Loyalty-Elemente wie Kundenkarten oder Rabattaktionen hinzu, oder aufkommensabhängige Preisgestaltungen, dürfte die Komplexitätsgrenze der aktuellen Systeme deutlich überschritten werden. Doch Plattform-anbieter sollten sich darauf einstellen, dass dies die Service-Erwartungen der Zukunft sein werden.
Zugleich wird die Versuchung groß sein, eine Mobilitäts-App mit guter Nutzerfrequenz durch eine Ausweitung auf Marketingfunktionen zu monetarisieren. Es mag ein nachvollziehbarer Ansatz sein, dem Pendler an der U-Bahn-Station eine Kaffeewerbung einzuspielen, allerdings besteht die Gefahr, die App zu überfrachten und den Fokus zu verlieren. Daher rate ich dazu, sich auf echte Mobilitätsangebote zu beschränken; sie mit guter Usability umzusetzen ist komplex genug.
Das komplette Interview lesen Sie in der Nahverkehrs-praxis 11-12/2022.