Interview mit dem Virologen Prof. Dr. Schmidt-Chanasit
Corona lässt uns Busse und Bahnen meiden: Zu viele Menschen, zu viel Nähe, zu großes Infektionsrisiko, denken offenbar viele. Die Fahrgastzahlen steigen nur langsam wieder an. Während des Shutdowns sanken sie auf 20 bis 30 %, aktuell liegen sie bei 70 bis 80 % gegenüber dem Vorjahr. Dabei sind die Sorgen eher unbegründet, sagt der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Der Professor meint: Mit den AHA-Regeln Abstand, Hygiene und Alltagsmaske lässt sich auch der ÖPNV nutzen. Schon früh hat er vor einer gewissen Daueraufgeregtheit gewarnt. Sie könne zu einer „Corona-Müdigkeit“ führen und dazu, dass die Menschen sich nicht mehr an die AHA-Regeln halten. Diese könne man allerdings gar nicht genug kommunizieren, so Schmidt-Chanasit. Ulrich Sieg hat mit ihm gesprochen.
Nahverkehrs-praxis: Herr Professor Schmidt-Chanasit, wie gut haben wir in Deutschland bisher das Corona-Virus im Griff?
Schmidt-Chanasit: Bislang ist Deutschland bekanntlich ziemlich gut durch die Pandemie gekommen. Nach meiner Wahrnehmung hat das vor allem mit der föderalen Struktur der Bundesrepublik zu tun, mit dem hohen Niveau unserer medizinischen Versorgung und ganz besonders mit der hervorragenden Arbeit unserer Gesundheitsämter. Es scheint von Vorteil zu sein, dass bei uns der Infektionsschutz und die Gesundheitsversorgung regional organisiert sind. Auch das Hausarztmodell gibt es so in anderen Ländern nicht. In Italien geht man gleich ins Krankenhaus, womöglich bereits in infektiösem Zustand. Hier ist die Hausarztpraxis erste Anlaufstelle – und zwar erstmal telefonisch – oder das Gesundheitsamt. Die arbeiten auch jetzt noch am Anschlag und leisten wirklich Großartiges.
Nahverkehrs-praxis: Müssen wir uns dennoch weiter Sorgen machen?
Schmidt-Chanasit: Über Wochen haben wir sehr wenige Neuinfektionen registriert, vor allem hier in Hamburg. Offenbar haben sich die Bürgerinnen und Bürger sehr konsequent an die Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen gehalten. Es gab eine Zeit, in der selbst wir im Tropeninstitut gedacht haben: Eigentlich gibt es in Hamburg kaum noch einen Ort, an dem man sich anstecken könnte. Trotzdem halten wir weiter Abstand zueinander, und wo das nicht möglich ist, tragen wir einen Mund-Nasen-Schutz. Aber offenbar ist das nicht überall so. Ein weiterer Anstieg der Neuinfektionen muss verhindert werden.
Nahverkehrs-praxis: Wir hören zunehmend von unvernünftigem Verhalten einer Reihe von Menschen, von feierlustigen Partygängern ohne Masken und ohne Einhaltung von Abstandsregeln sowie von Rückkehrern aus sogen. Risikoländern. Ist die Gefahr einer zweiten Corona-Welle bereits absehbar?
Schmidt-Chanasit: Eine Kollegin von mir hat das mit dem schwierigen Versuch verglichen, Milch auf dem Herd vor sich hin köcheln zu lassen. Wenn Sie nicht aufpassen, kocht die Milch über und macht eine Riesensauerei. Deshalb müssen Sie permanent danebenstehen und die Temperatur regeln. So ist es auch mit den Lockerungen: Wir kommen weder durch die Pandemie, indem wir den Herd ausstellen, also alles dichtmachen, noch, indem wir die Platte auf neun stellen, also so leben wie letztes Jahr noch. Wir müssen Konzepte finden, sicher zu reisen, zu feiern, zu arbeiten, zu lernen, zu handeln. Selbst angemeldete Prostitution soll demnächst in Norddeutschland wieder erlaubt sein, weil sich da soloselbständige Prostituierte zusammengetan und ein bestechendes Hygienekonzept entwickelt haben. Für das Pandemiemanagement ist das schlicht eine Frage der Risikoabwägung: Wenn wir die Infektionszahlen im Griff behalten wollen, müssen wir die Infektionsketten nachvollziehen und unterbrechen können. Und das können wir nicht bei illegalen Parties oder illegaler Prostitution.
Nahverkehrs-praxis: Eigentlich sind die präventiven Grundregeln für alle doch ganz einfach: Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen und einfache Hygieneregeln, wie z.B. häufiges Händewaschen, einhalten. Sind dies die besten und wirkungsvollsten präventiven Schutzmaßnahmen?
Schmidt-Chanasit: Ja, aber es fällt uns offenbar schwer, diese beizubehalten, wenn die Infektionszahlen gerade sehr niedrig sind. Da spielen auch kulturelle Aspekte eine große Rolle. Es gehört schon einiges dazu, eine ausgestreckte Hand nicht zu schütteln oder die beste Freundin nicht zu umarmen. Sie können nicht von heute auf morgen eine Begrüßungskultur ändern. Wir kennen das von anderen Epidemien, in Afrika z.B. oder China. Auch da gab und gibt es kulturelle Besonderheiten, etwa die Verwendung von Wildtieren, Bestattungsrituale und dergleichen. Aber es hilft nichts: Bis auf weiteres müssen wir die AHA-Regeln anwenden, das heißt: Abstand wahren, Hygiene einhalten und dort Alltagsmasken tragen, wo kein Abstand möglich ist. So viel Konsequenz und Solidarität kann jede/r aufbringen.
Nahverkehrs-praxis: Im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) mit Bussen und Bahnen ist ein ausreichender Abstand in den Fahrzeugen nicht immer einzuhalten. Genau deshalb ist hier das konsequente Tragen von Masken als Pflicht vorgeschrieben. Sehen Sie die Maskenpflicht hier als guten und ausreichenden Schutz vor einer Infizierung?
Schmidt-Chanasit: Die Maskenpflicht ist ein Baustein in einem Gesamtkonzept. Hinzu kommt, dass Bahnen und Busse ja gut durchlüftet sind durch das regelmäßige Öffnen der Türen. Außerdem setzen die Verkehrsbetriebe zusätzliche Wagen ein und haben ihre Taktzahl erhöht. Das alles trägt dazu bei, das Infektionsrisiko zu senken.
Nahverkehrs-praxis: Würden Sie dabei zwischen Fahrzeugen und Bahnhöfen unterscheiden? Sind hier differenziertere Schutzmaßnahmen sinnvoll?
Schmidt-Chanasit: Unbedingt. Maskentragen ist ja nun wirklich kein großes Zugeständnis, aber auf Dauer durchaus anstrengend. Wenn ich allein auf dem Bahnsteig sitze, kann ich daher selbstverständlich die Maske abnehmen. Aber ich glaube, inzwischen haben wir alle ein ganz gutes Gefühl für Abstände, durchlüftete Räume und Menschenmengen bekommen. Das muss man auch nicht überregulieren.
Nahverkehrs-praxis: Auch relativ oft berührte Oberflächen in Fahrzeugen und Bahnhöfen werden häufig desinfiziert, um sogen. Schmierinfektionen zu vermeiden. Ist das überhaupt erforderlich?
Schmidt-Chanasit: Schmierinfektionen sind nach aktuellem Forschungsstand nicht der Hauptübertragungsweg von Sars-COV-2, sondern Tröpfcheninfektionen. Aber selbstverständlich macht es Sinn, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Denn wir fassen uns etwa 800 Mal pro Tag ins Gesicht.
Nahverkehrs-praxis: Die Verkehrsunternehmen praktizieren darüber hinaus weitere präventive Maßnahmen, wie z.B. den Verzicht des Verkaufs von Tickets beim Fahrer, oder das automatische Öffnen aller Türen, um die Ansteckung ihrer Fahrgäste in Fahrzeugen und Anlagen weitestgehend zu vermeiden. Kann man nach Ihrer Einschätzung den Menschen damit insgesamt deren Sorge vor der Nutzung des ÖPNV nehmen?
Schmidt-Chanasit: Hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgends im Leben, auch nicht in einer Pandemie. Nicht nur der Staat muss da eine Risikoabwägung vornehmen, auch wir als Privatpersonen müssen das. Ich selbst bin Pendler. Ich pendele zwischen Berlin und Hamburg. Welches Risiko ist da wohl höher: dass ich mich im ICE, wo alle mit Mund-Nasen-Schutz sitzen, mit Corona infiziere, oder dass ich auf der A24 einen Unfall mit meinem Auto baue? Ziemlich sicher Letzteres. Für mich ist der ÖPNV ein sicheres, umweltschonendes und sauberes Fortbewegungsmittel – jetzt mehr denn je.
Nahverkehrs-praxis: Verschiedene Untersuchungen und Statistiken zeigen, dass die Nutzung des ÖPNV bisher keine relevante Quelle von Infektionen war. Entspricht dies auch Ihrer Erfahrung, oder liegen Ihnen dazu weitere Erkenntnisse vor?
Schmidt-Chanasit: Das entspricht auch meinem Kenntnisstand. Allgemein kann man dazu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung mit der Reisedauer und mit der Anzahl der Mitreisenden steigt. Im ÖPNV sind die durchschnittlichen Reiseweiten aber relativ kurz.
Nahverkehrs-praxis: Abschließend noch eine Frage: Was würden Sie den Fahrgästen und den ÖPNV-Unternehmen ergänzend zu den vorangegangenen Ausführungen noch empfehlen, um weiterhin entspannt und ohne Angst den ÖPNV als wichtiges Rückgrat der Mobilität zu nutzen?
Schmidt-Chanasit: Lassen Sie uns alle die AHA-Regeln beherzigen, Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmasken tragen, wo kein Abstand möglich ist, kurz: konsequent und solidarisch sein, Rücksicht nehmen, aufeinander achtgeben! Dann wird es uns gelingen, gut durch die Pandemie zu kommen, ohne auf zu viele Dinge, zu viele Wege und zu viele Gewohnheiten zu verzichten. So können wir alle dazu beitragen, dass die Milch nicht überkocht.
Nahverkehrs-praxis: Herr Professor Schmidt-Chanasit, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Exklusiv vorab für unsere Onlineleser: Dieses Interview erscheint auch in der September/Oktober-Ausgabe der Nahverkehrs-praxis.
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