Dass man nicht mit einem einzigen Fahrschein von Tallinn (Estland) nach Lissabon (Portugal) reisen kann, bemängelt Brüssel schon lange. In ihrer Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität (2020) bemängelt die Europäische Kommission abermals: „Planung und Fahrscheinkauf sind bei multimodalen Reisen umständlich.“ Im gleichen Dokument kündigte die Kommission an, gesetzgeberisch tätig zu werden, um diesen Missstand zu beheben.
Damit „Mobility as a Service“ (MaaS)-Dienste existieren können, sind mindestens zwei Aspekte nötig: der Zugang zu (Echtzeit-)Mobilitätsdaten und die Ausstellung von Tickets oder Fahrtberechtigungen. Genau an diesen beiden Stellen setzt die EU-Kommission an und hat für den Herbst 2023 zwei Gesetze angekündigt:
1. Die Überarbeitung der Delegierten Verordnung (EU) 2017/1926 über multimodale Reiseinformationsdienste (MMTIS), welche schon heute Mobilitätsanbieter und Infrastrukturmanager dazu verpflichtet, bestimmte, in digitalem Format vorliegende Daten an einen nationalen Zugangspunkt (NAP) zu liefern und mit Dritten zu teilen. Zukünftig wird diese Verpflichtung auch Echtzeitdaten betreffen sowie Auslastungsdaten der Fahrzeuge (sofern vorhanden) und historische Daten über Verspätungen und Fahrtenausfälle.
2. Eine neue Verordnung über multimodale digitale Mobilitätsdienste (MDMS), welche ein Rahmenwerk für den Vertrieb von Mobilitätsdiensten über digitale Plattformen, sogenannte MDMS-Plattformen, schaffen soll; das Gesetz soll die Rechte und Pflichten von Mobilitätsanbietern auf der einen Seite und Apps zur Bündelung von Reiseinformationen und Fahrscheinen auf der anderen Seite festlegen und miteinander in Einklang bringen, damit Kunden multimodale Reisemöglichkeiten leichter finden und buchen können.
Offiziellen Informationen zufolge hat die EU-Kommission drei mögliche Szenarien geprüft, wie das MDMS-Gesetz ausgestaltet werden könnte, wobei die erste Option (ein „leichter“ Ansatz, der vor allem auf freiwilligen Initiativen und Selbstverpflichtungen der beteiligten Branchen beruht) als nahezu ausgeschlossen gilt. So bleibt Verkehrskommissarin Adina Valean noch die Wahl zwischen der zweiten Option, welche Vorgaben bezüglich des Verlinkens von multimodalen Plattformen auf die Buchungsseiten und -systeme der Mobilitätsanbieter macht, und der dritten Option, die den tatsächlichen Vertrieb verschiedener Mobilitätsangebote auf MDMS-Plattformen reguliert.
Insbesondere das dritte Szenario ist hoch politisch, da es nicht nur in die Vertragsfreiheit von Verkehrsunternehmen und MaaS-Plattformen eingreifen, sondern auch die bislang unmittelbare Beziehung zwischen den Mobilitätsanbietern und ihren Kundinnen und Kunden aufbrechen würde. So sollen die großen, marktbeherrschenden Verkehrsunternehmen wie eine Deutsche Bahn AG und sämtliche gemeinwirtschaftlichen Verkehre (ausgenommen der städtische Verkehr ) verpflichtet werden, vertragliche Beziehungen mit interessierten MDMS einzugehen, die diese Reisemöglichkeiten und Fahrscheine anbieten möchten. Gleichermaßen sollen die aus Verbraucher-sicht wichtigsten, den Markt dominierenden Plattformen zur Kooperation mit interessierten Verkehrsunternehmen verpflichtet werden, die ihre Fahrscheine auf diesem Wege verkaufen möchten.
Was aus Sicht der Reisenden zu begrüßen ist, wirft im Hintergrund zahlreiche Fragen auf: etwa die nach den passenden technischen Schnittstellen und APIs, nach der Höhe eventueller Provisionszahlungen, und nach dem Datentransfer zwischen Plattformen und Verkehrsunternehmen. Für die Unternehmen ist es wichtig, auch weiterhin über die getätigten Fahrten sowie die Reise- und Buchungsanfragen ihrer Kundinnen und Kunden im Bilde zu sein. Doch während das europäische Gesetz den MDMS-Plattformen vorschreiben wird, für das Verkehrsmanagement relevante Daten mit öffentlichen Behörden zu teilen, fällt die Übermittlung von Daten an die Verkehrsunternehmen unter die sogenannten FRAND-Prinzipien und bleibt somit Verhandlungsmasse zwischen den Vertragspartnern. Datenreiche Plattformen und datenarme Verkehrsunternehmen – das kann allerdings auch in Brüssel niemand wollen.
Das zweite Szenario scheint ein Kompromiss zu sein, der den Erwerb von Fahrscheinen erleichtert, indem es sämtliche Verkehrsunternehmen dazu verpflichtet, interessierten MDMS-Plattformen das Verlinken auf die gesuchten Tickets in den eigenen Buchungssysteme zu ermöglichen; gleichzeitig beließe dieses Szenario den Buchungsvorgang für jedes einzelne Ticket – und somit „den Kunden“ und seine Daten – bei den jeweiligen Mobilitätsanbietern. Europäischen MaaS-Platt-formen und Verbraucherverbänden geht dieser Vorschlag allerdings nicht weit genug: sie appellieren an die EU-Kommission, die vollständige Öffnung des Vertriebs durchzusetzen.
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Nahverkehrs-praxis 9/10-2023.