Eine unabhängige Untersuchung des Mobility Institute Berlin (mib) zeigt, wie groß der Reisezeitnachteil für ÖPNV-Nutzer im Vergleich zu Autofahrenden in den elf größten deutschen Städten ist.
Wichtige Zusatzinformationen zur Untersuchung am Ende der Pressemitteilung.
Der systematische Vergleich ergibt, dass die Menschen mit dem ÖPNV im Durchschnitt doppelt so lange (2,06-mal) unterwegs sind, um an ihr Ziel zu gelangen, wie mit dem Auto. Der Reisezeitindex bewegt sich zwischen 1,94 am unteren und 2,24 am oberen Ende der Skala und ist somit in allen untersuchten Großstädten vergleichbar. Der Reisezeitnachteil des ÖPNV ist deshalb besonders relevant, weil die Reisegeschwindigkeit eines der wichtigsten Kriterien bei der Verkehrsmittelwahl darstellt.
mib-Gründer und Geschäftsführer Torben Greve sieht hier Handlungsbedarf: „Die Verkehrswende gelingt nur, wenn der ÖPNV für mehr Menschen das Verkehrsmittel Nummer eins wird. Dazu muss der ÖPNV aber wettbewerbsfähiger werden. Mit intelligenter Planung kann der ÖPNV vielerorts durch kurzfristig umsetzbare Maßnahmen spürbar beschleunigt werden, beispielsweise durch veränderte Linienführungen und somit weniger Umwege und Umstiege sowie grüne Welle für Bus und Bahn auf der Straße.“
Mithilfe des Reisezeitindex werden nicht-konkurrenzfähige ÖPNV-Anbindungen identifiziert und handlungsleitende Erkenntnisse für Lückenschlüsse und Angebotsverbesserungen gewonnen. Durch eine Kombination aus langfristigen Lösungsansätzen wie dem Ausbau des Schienenverkehrs und kurzfristigen Maßnahmen wie dichteren Busnetzen und Takten, können Wartezeiten und lange Fußwege zu den Haltestellen verringert werden.
Je nach Stadtgebiet und Strecke variiert nicht nur die Qualität des ÖPNV, sondern auch der Ausbau des Straßennetzes. Der Reisezeitunterschied ist deshalb stark abhängig vom jeweiligen Standort und Reiseziel innerhalb der Stadt. Allerdings ist die Ausgangslage in den untersuchten Städten nicht nur hinsichtlich des Verkehrsnetzes sehr unterschiedlich. Beispielsweise weisen die Städte München [1. Platz] und Stuttgart [2. Platz] (Indexwert 1,94) gegenüber Hamburg [3. Platz] (Indexwert 2,24) eine deutlich höhere Einwohnerdichte auf. Bei dichter Besiedelung können pro Haltestelle mehr Menschen angebunden werden, während in dünn besiedelten Städten die Laufstrecken zu S- und U-Bahnhaltestellen durchschnittlich weiter sind. Dies hat einen Einfluss auf die ÖPNV-Reisezeit.
Torben Greve: „Um die Mobilitätswende voranzubringen steht jede Stadt vor individuellen Herausforderungen. Es liegt aber überall ein enormes Potenzial darin, den öffentlichen Nahverkehr auf Strecken mit großem Reisezeitnachteil zu beschleunigen. Die Erfahrung zeigt: Wenn mehr Menschen mit dem ÖPNV schnell und zuverlässig unterwegs sein können, lassen diese ihr Auto auch gerne häufiger stehen.“
Quelle: mib Mobility GmbH
Zusatzinformation vom mib nach Anfrage der Nahverkehrs-praxis: „Berücksichtigt der Reisezeitindex auch die Zeit für Parkplatzsuche und die regelmäßigen Staus (beides ein Problem gerade in den untersuchten Großstädten)?“
mib: „Bei unserer Untersuchung handelt es sich um einen systematischen Vergleich und bei den Reisezeitindizes der Städte um Durchschnittswerte. Im Vordergrund steht zwar der systematische Reisezeitnachteil des ÖPNV, allerdings gibt es in jeder Stadt auch Relationen, auf denen der ÖPNV nicht nur vergleichbar schnell, sondern sogar schneller unterwegs ist als das Auto (z.B. entlang von Schienenachsen). Die Reisezeiterfahrung einzelner Nutzer hängt somit stark von ihrem Standort und Reiseziel innerhalb des Stadtgebiets ab.
Der Erkenntniswert der Untersuchung liegt aber eben auch darin, dass die individuellen und anekdotischen Erfahrungen von Nutzer und Einwohner mit Reisezeiten einem systematischen Vergleich unterzogen wurden, der das gesamte Stadtgebiet umfasst. Dieser umfasst auch Relationen mit sehr großem Reisezeitnachteil für den ÖPNV, die vielleicht nicht für jeden Nutzer im Alltag eine Rolle spielen.
Im Einzelnen
Parksuchzeit:
– Da nicht für alle Faktoren, die in der Praxis eine Rolle spielen, Daten verfügbar oder im Umfang dieser Untersuchung integrierbar sind, wurden einige vereinfachende Annahmen getroffen. Dazu zählt, dass zu jeder Strecke mit dem Auto pauschal fünf 5 Minuten addiert wurden, um Fußweg zum Auto und Parksuchzeit abzubilden.
– Die Schätzung von fünf Minuten basiert insbesondere auf den Richtlinien für integrierte Netzgestaltung (RIN), die je nach Gebietstyp und Bevölkerungsdichte von Werten zwischen 1-4 Minuten ausgeht.
Staus:
– Die MIV-Reisezeiten wurden über einen Algorithmus von Here Technologies bestimmt, der reale Reisezeiten der Vergangenheit berücksichtigt. Die MIV-Reisezeiten wurden für einen Wochentag (im Zeitraum 07:30-08:30) im Januar 2020 (also vor der Pandemie) abgerufen – ein Zeitraum in dem Staus vorrangig auftreten.
– Allerdings haben wir keine Einblicke darein, wie genau die historischen Reisezeiten berücksichtigt werden und inwieweit das Ergebnis der Abfrage eventuell durch veränderte Verkehrsmuster während der Corona-Zeit beeinflusst sein könnte. Bei einer stichprobenartigen Überprüfung der verwendeten Reisezeiten auf einigen wichtigen Relationen (manuell mit Echtzeitdaten von Google Maps) konnten wir aber keine systematischen Unterschiede feststellen.