Online-Interview: Die Bahnindustrie braucht qualifizierte, engagierte und kreative Köpfe

Interview mit Andre Rodenbeck, CEO Rail Infrastructure bei der Siemens Mobility GmbH und seit dem 24. Juli 2020 neuer Präsident des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) e.V.

Nahverkehrs-praxis: Allianz pro Schiene und SCI Verkehr berichteten im Juli darüber, dass es in Deutschland – verglichen mit anderen europäischen Ländern – einen erheblichen Investitionsrückstand das Schienennetz betreffend gibt. Anfang des Jahres sprach Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer bei der Unterzeichnung der neuen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung für den Erhalt und die Modernisierung des deutschen Schienennetzes vom „Jahrzehnt der Schiene“. Sehen Sie das auch so optimistisch wie der Minister, oder wie wird die Entwicklung in Ihrer Branche verlaufen?

Rodenbeck: Das Konjunkturpaket der Bundesregierung gibt extrem wichtige Impulse für die Schiene als Wachstumstreiber für Deutschland. Dabei müssen Wirtschaft und Klima zusammenwirken – genau das ist ein Eckpfeiler des Konjunkturpakets. Und die Bahnindustrie steht bereit. Wir wollen und können Schiene 4.0 realisieren. Deutschland kann der digitalen Transformation sofort Schwung geben. Schon bis Ende 2021 werden wir erste Ergebnisse sehen.
Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Zukunftsinvestitionen aus einem staatlichen Konjunkturpaket müssen Effekte mit höchstem Nutzen-Kosten-Verhältnis für Klima, Wirtschaft und Steuerzahler entfalten. Dabei muss es auf die besten Lösungen ankommen.
Wir wollen die Bahnbranche als resiliente Klimaindustrie in Europa stärken. Dafür ist es essentiell die Konjunkturmittel an europäische Beschaffung und Klimaschutz zu knüpfen. Was heißt das konkret? Öffentliche Vergaben müssen wesentlich stärkere Impulse geben für Innovation und europäische Wertschöpfung. Lebenszykluskosten, Preis-Leistungs-Verhältnis und Nachhaltigkeit müssen Vergaben entscheiden, nicht der Anschaffungspreis. Und dafür ist nicht einmal eine Gesetzesänderung nötig. Kriterien für diesen Kulturwandel sehen das europäische und deutsche Vergaberecht bereits vor. Was fehlt, ist die konsequente Implementierung. Effektiver Klimaschutz muss über attraktive Angebote kommen.

Nahverkehrs-praxis: Um die CO2-Emissionen weiter zu senken, wird eine Komplettelektrifizierung des deutschen Schienenverkehrs diskutiert. Ein wichtiger Bestandteil der Strategie soll der Einsatz batterieelektrischer Fahrzeuge im SPNV sein. Ist das ein realistischer Ansatz in technischer wie finanzieller Hinsicht?

Rodenbeck: Elektromobilität ist auf der Schiene schon seit über 140 Jahren Realität. Und dort, wo es betriebswirtschaftlich oder geografisch sinnvoll ist, geht es heute auch ohne Oberleitung. Wasserstoff-, Batterie-, und Hybridantriebe „Made in Germany“ sind bereits heute verfügbar. Batteriezüge legen heute bis zu 100 Kilometer ohne Fahrdraht zurück. Wasserstoffzüge sind seit 2016 erfolgreich im Portfolio. Die Schiene kann zum Vorreiter für den Ausbau von Wasserstofftankstellen und der Ladeinfrastruktur für alternative Antriebe avancieren. Diess bietet große Chancen für die Realisierung der Klimaschutzziele.

Nahverkehrs-praxis: Aktuelle Umfragen besagen, dass die Verkehrswende hin zu einer klimafreundlicheren Mobilität von der Bevölkerung weiterhin gewollt ist. Haben die zuständigen Entscheider in Politik und Wirtschaft die Weichen schon richtig gestellt, oder sind noch weitere bzw. andere Maßnahmen notwendig?

Rodenbeck: Die Richtung, in die wir gehen, stimmt. Und beim Tempo setzen wir heute neue Maßstäbe an. Gemeinsam mit den Beteiligten in den Ministerien, bei den Bahnbetreibern und in der Industrie – und hier spreche ich ausdrücklich nicht nur für die Systemhäuser, sondern auch für den breiten deutschen Mittelstand – ist der Wille entstanden, hier noch mehr zu beschleunigen. Eines der aktuell größten Vorhaben ist hier die Digitalisierung des Schienennetzes. Das deutsche Schienennetz ist der Struktur nach sehr gut, aber teilweise in marodem Zustand. Teils stammt die Stellwerkstechnologie hierzulande noch aus Kaiserzeiten. Das Gesamtsystem von Infrastruktur und Fahrzeugen muss synchron modernisiert und digitalisiert werden. Dies geschah bisher viel zu langsam. Nur in gemeinsamer Verantwortung können Politik, Betreiber und Industrie die Zukunft einer digitalen, klimafreundlichen Mobilität auf der Schiene bereits heute Wirklichkeit werden lassen.

Nahverkehrs-praxis: Eine Umfrage des „Karriereportals Schienenjobs.de“ aus dem Juli 2020 hat ergeben, dass die Corona-Einschränkungen den langfristigen Beschäftigungsaufschwung in der Schienenbranche zwar unterbrochen, ihn jedoch nicht gestoppt haben. 92 % der Unternehmen sind ohne Personalabbau ausgekommen und zwei Drittel wollen sogar in den nächsten 12 Monaten wieder zusätzlich Arbeitnehmer einstellen. Wie ist das trotz Corona zu erklären?

Rodenbeck: Unsere Branche ist in einer ersten Phase gut durch die Krise gekommen. Unsere Lieferketten haben standgehalten, unsere Werke in Deutschland sind offengeblieben. Weiterhin haben viele Mitarbeiter unserer Industrie insbesondere in dieser Zeit gezeigt, wie wichtig ihre Arbeit ist. Ein großer Dank daher an alle Beschäftigten, die in dieser Zeit das System Bahn weltweit am Laufen gehalten haben. Doch wir dürfen hier nicht zu schnell die Bücher schließen, sondern müssen wachsam den Blick auf den Horizont halten, insbesondere die Situation im Ausland, in dem viele deutsche Unternehmen tätig sind, ist teilweise immer noch schwierig.
Was unsere Beschäftigten angeht: Die Bahnindustrie in Deutschland ist Klimaindustrie. Das macht unsere Branche gerade für jüngere Generationen zu einem attraktiven Arbeitgeber. Wer bei uns anfängt ist vor allem immer eines: Klimaschützer. Darüber hinaus bietet die Digitalisierung eine ganz neue Bandbreite an Arbeitsprofilen, die gerade für Quereinsteiger interessant sind.

Nahverkehrs-praxis: Welche Berufsgruppen sind besonders gefragt und was unternimmt die Branche, um Personal zu gewinnen?

Rodenbeck: Um die Zukunft der Mobilität aufs Gleis zu bringen, sucht die Bahnindustrie in Deutschland qualifizierte, engagierte und kreative Köpfe.  Menschen verbinden, Klima schützen, Wirtschaft stärken, Mobilität neu denken – nichts Geringeres sind die Aufgaben der nächsten Generation im Bahnsektor. Ob Hochgeschwindigkeitszüge, autonome Regionalzüge und Metros, vernetzte Bahnhöfe oder alternative Antriebe – überall steckt ganz viel Zukunft und Innovationen drin. Digitalisierung und emissionsfreie Elektromobilität wie Wasserstoff-, Batterie- und Hybridtechnologien müssen kontinuierlich weiterentwickelt und für die Branche neu definiert werden. Deshalb braucht der Sektor Maschinenbauingenieur/innen, Ingenieure/innen, Spezialisten für regenerative Energiequellen und Mechatroniker/innen, um die Grenze des technisch Machbaren weiter zu verschieben. Digitale Schieneninnovationen schaffen völlig neue High-Tech-Berufe für Elektrotechniker/innen, Informatiker/innen und Industriemechaniker/innen. Und Innovation braucht auch Realisation. Die Architekten von Schiene 4.0 arbeiten nicht nur in der Forschung und Entwicklung, sondern auch in Werkhallen und an den Gleisen. Ausbildungen in der Fertigung und Qualitätsprüfung bieten abwechslungsreiche und verantwortungsvolle Aufgabenbereiche mit flexiblen Arbeitszeiten und vielseitigen Einsatzbereichen.
Die Welt noch nachhaltiger, digitaler, sicherer und schneller voranbringen – diese Mission eint die Bahnindustrie in Deutschland. Und für diese Mission suchen wir in der Bahnindustrie neue Mitstreiter/innen, die Mobilität genauso begeistert wie uns.

Nahverkehrs-praxis: Herr Rodenbeck, vielen Dank für das Gespräch.

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