Die Coronakrise stellt Verkehrsunternehmen vor große organisatorische und finanzielle Herausforderungen. Nahverkehrs-praxis sprach darüber mit Mag.a Alexandra Reinagl, Geschäftsführerin der Wiener Linien.
Nahverkehrs-praxis: Die Coronakrise mit den durch die Politik festgelegten immensen Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung hat zu einem starken Einbruch der ÖPNV-Nachfrage geführt. Ist seriös zu beziffern, welche finanziellen Auswirkungen der „Shutdown“ für die Verkehrsunternehmen bis jetzt hat und mittelfristig haben wird?
Reinagl: Seriös zu beziffern ist es nicht, aber das kann wohl auch noch keine andere Branche. Wir haben unsere Systeme nicht in der gleichen Geschwindigkeit heruntergefahren, wie die Fahrgastzahlen gesunken sind, beim Öffnen nach dem Shutdown sind wir der Entwicklung der Fahrgastströme hingegen voraus. Die Wiener Linien haben ihre Angebote erst heruntergefahren, als sich abzeichnete, dass es einen Fahrgasteinbruch von 80 % gegeben hat – und auch dann nie mehr als um 50 %. Die U-Bahnen sind beispielsweise in einem 5-Minutentakt gefahren.
Beim Herauffahren sind wir mit unserem Angebot inzwischen schon wieder sehr weit fortgeschritten, obwohl die Fahrgastzahlen immer noch ungefähr 50 % unter dem üblichen Wert liegen. Momentan haben die Wiener Linien bei den Umsatzerlösen ein Minus von 20 % zu verzeichnen, mögliche Kündigungen im Jahreskartenbereich sind darin noch nicht eingerechnet. Die Zahlen stammen aus dem März. Bei diesen Zahlen ist aber zu berücksichtigen, dass es gleichzeitig viele Branchen gab, die ihre Mitarbeiter in die Kurzarbeit geschickt oder freigesetzt haben. Wir konnten unsere Kosten hingegen nur geringfügig senken, weil wir – obwohl weniger Fahrzeuge fuhren – den gleichen Personaleinsatz hatten, denn wir sind in die Reservehaltung gegangen. Wir mussten immer einsatzbereit sein, um mobil bleiben zu können. Wir haben das Personal sehr schnell gesplittet, um Gruppen in Reserve halten zu können. Sie mussten sich sehr strikten Vorsichtsmaßnahmen unterziehen, um sich nicht der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Hätte sich in einer Schicht nur eine Person infiziert, wäre die komplette Schicht unter Quarantäne gestellt worden.
Beim Materialeinsatz war ein geringer Kostenrückgang zu verzeichnen, weil weniger Strom und Diesel verbraucht wurden, aber das fällt kaum ins Gewicht. Insgesamt waren die Kosten nahezu stabil, die Einnahmen sind hingegen aufgrund des Einbruchs der Fahrgastzahlen stark gesunken.
Nahverkehrs-praxis: Bis zum Ausbruch der Pandemie bestand in der Gesellschaft ein Konsens darüber, dass die sogenannte „Verkehrswende“ ohne einen leistungsstarken öffentlichen Nahverkehr nicht umzusetzen ist, er bildet ja das Rückgrat einer umweltfreundlichen Mobilität. Sehen Sie die Gefahr, dass die eigentlich geplanten Erneuerungs- und Ausbaumaßnahmen jetzt hinterfragt werden, oder ist jedem – auch in der Politik – klar, dass es ohne möglichst schnell umgesetzte Verkehrswende auch keine Klimawende geben wird?
Reinagl: Was die Verkehrswende betrifft glaube ich, dass dies für die Bevölkerung in Wien – gerade auch bei den jungen Menschen – weiterhin ein sehr wichtiges Thema ist und auch bleiben wird. Wien war nie eine Autostadt und ich denke, dass sich die Menschen auch nach der Krise nicht in großen Mengen Autos kaufen werden. Wien ist eine Stadt des öffentlichen Nahverkehrs. Fast die Hälfte aller Wienerinnen und Wiener hat eine Jahreskarte und ist mit Begeisterung „öffentlich“ unterwegs. Gerade eben wurde Wien zur „greenest City“ weltweit gekürt unter besonderem Hinweis auf den innovativen Mobilitätsansatz. Was die Beibehaltung der Ausbaupläne betrifft, bin ich mir hingegen nicht so sicher. Die öffentlichen Budgets werden jetzt insgesamt sehr strapaziert und die Einigung bei geplanten ÖPNV-Projekten, die noch verhandelt werden müssen, wird sich deshalb wahrscheinlich hinziehen.
Nahverkehrs-praxis: In einigen Medien wurde aus Hygienegründen von der Nutzung des ÖPNV abgeraten. Hat das Ihrer Meinung nach zu einem Image-Tief geführt?
Reinagl: Wir hatten in Wien vor der Coronakrise einen sehr großen Modal Split-Anteil, weil hier die öffentlichen Verkehrsmittel immer schon einen hohen Stellenwert besitzen, auch in der Politik. Wir waren insgesamt auf einem guten Weg, uns zur Mobilitätsdrehscheibe in der Stadt zu entwickeln. Von diesem Zenit sind wir jetzt „abgestürzt“, auch weil durch Politiker und Medien aus Ansteckungsgründen von der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel abgeraten wurde. Da kann durchaus von einem Imageverlust gesprochen werden. Es ist aber auch klar, dass für die Gesellschaft entscheidende Themen wie Klimaschutz weiter vorangetrieben werden müssen, und hier ist der öffentliche Nahverkehr mit entscheidend. Auch wenn wegen der Coronakrise andere Themen in den Vordergrund gerückt sind, darf das nicht in Vergessenheit geraten. Der ÖPNV hat während der gesamten bisherigen Krise zuverlässig funktioniert und unsere Mitarbeiter haben sich der Infektionsgefahr ausgesetzt. Hinzu kommt, dass es keine wissenschaftliche Studie gibt, die belegt, dass im öffentlichen Nahverkehr eine erhöhte Ansteckungsgefahr besteht.
Nahverkehrs-praxis: Niemand kann sicher sagen, wann die Pandemie beendet sein wird. Wird uns das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im ÖPNV dauerhaft begleiten, und an welche anderen Maßnahmen zum Schutz von Fahrgästen und Mitarbeitenden werden wir uns gewöhnen müssen? Oder ist vielleicht doch schon abzusehen, dass in naher Zukunft der ÖPNV wieder ohne Einschränkungen benutzt werden kann?
Reinagl: Generell wird man neu überdenken müssen, wie sich Menschen im öffentlichen Raum gefahrlos aufhalten können. Das Tragen von Mund- und Nasenschutz wird uns solange begleiten, bis ein Impfstoff entwickelt und freigegeben worden ist und eine gewisse Durchimpfungsrate erreicht wird. Wir müssen davon ausgehen, dass die Sicherheitsmaßnahmen mindestens noch ein Jahr bestehen bleiben. Möglicherweise wird es in Zukunft sogar üblich sein, Mund- und Nasenschutz ständig zu tragen, wie es im asiatischen Raum schon länger Usus ist.
Aber nicht nur der Fahrgastschutz ist wichtig, sondern auch die Fahrer sollen sich natürlich nicht infizieren. Deshalb besteht unser nächster Schritt darin, bei der Busbeschaffung darauf zu achten, dass die neuen Fahrzeuge abgeschlossene Fahrerkabinen haben, wie es bei den Straßen- und U-Bahnen bereits lange üblich ist. Unser Servicepersonal, z.B. in den Stationen oder beim Sicherheitsdienst, ist mit Baumwollmasken ausgestattet und trägt im direkten Kundenkontakt ein sogenanntes „face-shield“.
Nahverkehrs-praxis: Im Zuge der Verkehrswendediskussion fordern Initiativen mehr Fuß- und Radwege, Wirtschaftsverbände hingegen freie Fahrt für den Autoverkehr, um den Handel zu retten. Und der VDA in Deutschland sogar staatliche Autokauf-Prämien, u.a. um Elektroautos zu fördern. Wo steht der ÖPNV momentan in diesem Kampf um die Verteilung des Platzes in den Städten, und sollte die Politik nicht stärker in klimaschonende Verkehrssysteme investieren als in Autos?
Reinagl: Selbstverständlich sollte in moderne Verkehrssysteme statt in Autos investiert werden. Denn wir haben in den Städten ja nicht nur ein Klima- sondern auch ein Platzproblem, und das kann auch mit einem Elektroauto nicht gelöst werden. In öffentlichen Verkehrsmitteln werden viele Personen auf einmal transportiert und sparen im Straßenraum im Gegensatz zum PKW sehr viel Platz ein, und 80 % unserer Fahrzeuge sind schon elektrisch unterwegs. Der Vorteil des ÖPNV ist offensichtlich, und davon müssen die Institutionen, die die Gelder für den Verkehr zur Verfügung stellen, überzeugt werden.
Dazu gehört auch, die Förderung von Elektrobussen nicht zu verringern, die Förderquote ist in Österreich im Vergleich zu Deutschland sehr gering. Wir arbeiten mit der Industrie eng bei der Weiterentwicklung der Technik zusammen und würden das auch gerne noch weiter ausbauen. Für uns ist entscheidend, dass serienreife Fahrzeuge zu ökonomisch vertretbaren Kosten am Markt zu bekommen sind. Das ist momentan allerdings noch nicht der Fall. Die „Clean Vehicles Directive“ der EU führt dazu, dass wir sehr rasch Antworten für dieses Problem finden müssen. Daher ist auch die Möglichkeit, durch das sogenannte „Retrofit“ Dieselfahrzeuge um- bzw. nachzurüsten, durchaus eine Alternative. Aber auch das muss sich natürlich ökonomisch darstellen lassen.
In der Nahverkehrs-praxis 6-2020 lesen Sie von Mag.a. Alexandra Reinagl einen Artikel über die laufenden und geplanten Projekte der Wiener Linien, die das Ziel haben, allen in Wien verkehrenden Menschen Zugang zu einer kostengünstigen, umweltfreundlichen und weitreichenden öffentlichen Infrastruktur bieten zu können.