Der
Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV)
zeigte sich überrascht über den Vorschlag von Umweltministerin
Dr. Barbara Hendricks
(SPD), Kanzleramtschef
Peter Altmaier
(CDU) und Verkehrsminister
Christian Sch
midt
(CSU), zur Verbesserung der Luftreinhaltung in Städten einen
kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV)
einzuführen.Die Nahverkehrs-praxis hat einige Branchenstimmen eingefangen:
VDV befürchtet Schnellschuss
Grundsätzlich begrüßte
VDV-Präsident Jürgen Fenske
zwar, dass "die Bundesregierung die Schlüsselrolle des ÖPNV für Luftreinhaltung und Klimaschutz" entdeckt habe. "Doch bevor man", so Fenkse weiter "über kostenlosen, also steuerfinanzierten Nahverkehr nachdenkt, müssen zunächst überhaupt die
Voraussetzungen für einen leistungsfähigen ÖPNV
in Deutschland geschaffen werden." Der VDV wies in diesem Zusammenhang auf die in zahlreichen deutschen Städten bereits
überlastete Infrastruktur
hin. Denn es ist davon auszugehen, dass die Einführung eines kostenlosen ÖPNV zu einem kurzfristigen und sprunghaften Fahrgastanstieg der vorhandenen Systeme führt und diese vollständig überlastet. Der VDV fordert deshalb zunächst den Ausbau der bestehenden Kapazitäten im deutschen Nahverkehr mit Hilfe öffentlicher Finanzierung. In einem zweiten Schritt könnte man dann über einen kostenlosen Nahverkehr in Deutschland nachdenken. Doch auch dann dürfe dies keine Eintagsfliege sein. Der Nahverkehr muss stattdessen auf allen staatlichen Ebenen, also Bund, Länder und den kommunalen Gebietskörperschaften dauerhaft und nachhaltig finanziert werden. In seiner Stellungnahme bezifferte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen die Kosten für eine kontinuierliche Finanzierung auf rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr. Darin inbegriffen sind noch nicht die Milliardenbeträge für Infrastrukturinvestitionen.
Auch Städtetag erwartet klare Aussage zur Finanzierung
Auch der
Deutsche Städtetag
zeigte sich von dem Vorstoß überrascht. Ähnlich wie Jürgen Fenske stellte auch
Helmut Dedy
, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages die Frage nach der Finanzierbarkeit der Idee: "Wer kostengünstigen Nahverkehr will, muss das aber auch finanzieren können." Er erinnerte Union und SPD an den Koalitionsvertrag aus der vergangenen Woche: Dort sei die Zusage enthalten,
dass derjenige eine Leistung bezahlt, der sie auch bestellt hat.
In diesem Fall müsste aus Sicht des Städtetages also der Bund bezahlen.
Machbarkeits- und Finanzierungsmodelle prüfen
"Aus unserer Sicht ist dies ein
interessanter Modellansatz
, um den ÖPNV zu stärken und weiterzuentwickeln. Es sind sicherlich noch viele Fragen zu klären, wie beispielsweise die Auswirkungen auf die vorhandene Infrastruktur sowie die damit verbundene Finanzierung. Als Verkehrsunternehmen finanzieren wir uns zu einem erheblichen Anteil aus
Ticketeinnahmen
, die bei einem kostenlosen ÖPNV wegfallen würden und so dauerhaft durch die öffentliche Hand kompensiert werden müssten. Außerdem würde ein kostenloses Angebot vermutlich zu einem steigenden Fahrgastaufkommen führen. Hier müssten entsprechende Machbarkeits- und Finanzierungsmodelle geprüft werden", erklären
Uwe Bonan und Michael Feller, Geschäftsführer der Ruhrbahn GmbH
.
"Nicht nur der Preis-Faktor sollte ein Argument für die Attraktivität des ÖPNV sein"
"Das Streben der Regierung, den ÖPNV mit kostenlosen Angeboten attraktiver zu machen, unterstützen wir. Die
Vorteile liegen auf der Hand
: ÖPNV Angebote werden stärker genutzt, der
Verkehr von Privatautos reduziert sich drastisch
. Dies kommt der Luftqualität und der Umwelt in urbanen Räumen zugute. Für den Verbraucher sollte jedoch nicht nur der Preis-Faktor ein Argument für die Attraktivität des ÖPNV sein. Unsere Mobilität wird einen Systemwechsel erleben. In zehn Jahren werden heute bestehende Insel-Lösungen wie Bike-Sharing, Car-Sharing, Taxen und ÖPNV vernetzt sein. Mobilität funktioniert dank Digitalisierung, autonomer Fahrzeuge, künstlicher Intelligenz und anderer Technologien völlig anders und viel komfortabler, effizienter. In ÖPNV-Netze integrierte On-Demand Ridesharing-Angebote bieten für Städte und Kommunen enorme Einsparpotentiale. Ein kostenloses ÖPNV Angebot beschleunigt die Verbreitung solcher Angebote enorm, Flotten sind schlagartig besser ausgelastet. (…) Vielmehr wird es selbstverständlich auch vollkommen andere Finanzierungsformen geben", so
Dr. Tom Kirschbaum, Gründer und Geschäftsführer door2door.
"Nicht durchdacht, nicht abgesprochen und nicht ausfinanziert"
"Der Druck der EU-Kommission auf die Bundesregierung muss groß sein, denn der Vorschlag, einen kostenlosen Nahverkehr einzuführen, ist ein typischer Schnellschuss: nicht durchdacht, nicht abgesprochen und nicht ausfinanziert. Abgesehen von den horrenden Kosten von mindestens 12 Milliarden Euro pro Jahr gibt es schlicht zu wenig Fahrtrassen, Haltestellen und Fahrzeuge. Das Einzige, was der Bundesgesetzgeber tun müsste, um nicht nur Stickoxide und Feinstaub zu reduzieren, ist einen zusätzlichen Paragraphen in das Personenbeförderungsgesetz einzufügen, der Ridesharing erlaubt. Das geht genauso schnell und kostet genauso wenig wie einen interministeriell abgestimmten Brief an die EU-Kommission zu schreiben", erklärt
Professor Dr. Volker Eichener, Stadtforscher an der Hochschule Düsseldorf.
"Was nichts kostet, ist auch nichts wert"
"Ohne auf den planlosen Aktionismus nach Jahren untätiger Vernachlässigung einzugehen, dem dieser Vorschlag entstammt: Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Besser wäre ein bundesweit gültiges 365-Euro-Jahresticket, gepaart mit deutlich mehr Investitionen und Ausbau. Ein attraktiver, verlässlicher und schneller ÖPNV ist das Backbone aktiver, sauberer und integrierter urbaner Mobilität. Dazu brauchen wir ergänzende Vehicle- und Ridesharingangebote, 100-prozentige Elektrifizierung der Flotten und entsprechender Infrastruktur, flächendeckenden Ausbau breiter Fahrradwege – alles intelligent vernetzt", machte
Dirk Evenson, Direktor der New Mobility World Logistics, der Innovationsplattform der IAA Nutzfahrzeuge
, deutlich.
bdo fordert ehrliche Debatte über zukünftige Organisation des ÖPNV
bdo-Präsident Karl Hülsmann
ist verwundert über den aktuellen – und völlig überraschenden – Vorstoß der Bundesregierung zu einem kostenlosen ÖPNV-Angebot. Er regt diesbezüglich eine offene Debatte über die Planung und Ausgestaltung sowie die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs in Deutschland an. Die Ballungsräume stehen hierbei nicht für sich, sondern sind im Zusammenhang mit ihrem Umland und den entsprechenden Verkehrsströmen zu betrachten. Der Verbandspräsident fordert grundsätzlich eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der Marktwirtschaft im ÖPNV – zugunsten der Umwelt und der Gesundheit der Fahrgäste.
Statt Gratisticket: Trassenpreis für Bahnreisen senken
Allianz pro Schiene
fordert in der Debatte um eine steuerfinanzierte Verbilligung des öffentlichen Nahverkehrs zur Verbesserung der Luftqualität in den Städten von der Politik bezahlbare Mobilität für ganz Deutschland, wie aus einem Statement hervorgeht.”